Welche Art von Gesellschaft werden wir?
Die öffentliche Diskussion über Künstliche Intelligenz (KI) ist geprägt von Extremen. Auf der einen Seite stehen utopische Versprechungen von einer Welt, in der komplexe Probleme wie Krankheiten und Klimawandel gelöst werden. Auf der anderen Seite stehen dystopische Ängste vor massenhaftem Arbeitsplatzverlust, autonomer Kriegsführung und dem Verlust menschlicher Kontrolle. Dieser Hype-Zyklus, eine Mischung aus übersteigerten Erwartungen und tief sitzenden Sorgen, dominiert die Schlagzeilen und erschwert eine nüchterne Auseinandersetzung mit dem Thema.
Narmer Menes
12/9/20255 min read


Dieser Beitrag destilliert die wichtigsten Erkenntnisse aus umfassenden Studien – wie der PwC-Analyse „Sizing the prize“ und der tiefgreifenden Untersuchung „Wenn Algorithmen für uns entscheiden“. Wir fassen die Kernpunkte zusammen, die Führungskräfte benötigen, um jenseits des Lärms fundierte Entscheidungen zu treffen.
Die KI-Revolution ist eine ökonomische Flutwelle
Oft wird KI als eine technologische Weiterentwicklung betrachtet, ähnlich dem Aufkommen des Internets oder des Smartphones. Doch fundierte Prognosen zeichnen ein völlig anderes Bild. Laut einer umfassenden Studie von PwC wird künstliche Intelligenz das globale Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis 2030 um 14 Prozent steigern. Das entspricht einem Zuwachs von 12.5 Billionen CHF – eine Summe, die die fundamentale transformative Kraft dieser Technologie unterstreicht.
Dieses enorme Wachstum wird von zwei Haupttreibern angetrieben:
Erstens eine Steigerung der Arbeitsproduktivität, die laut der Studie etwa die Hälfte aller wirtschaftlichen Gewinne aus KI ausmachen wird. Diese ergibt sich aus der Automatisierung von Prozessen und der Erweiterung menschlicher Arbeitskräfte durch KI-Technologien, die als intelligente Assistenten fungieren.
Zweitens ein zusätzlicher Schub von rund 7 Billionen CHF, der aus tiefgreifenden Produktverbesserungen und einem durch KI-induzierten, veränderten Konsumverhalten resultiert. Personalisierte Angebote und neue Dienstleistungen schaffen völlig neue Märkte und Nachfragemuster.
Für Strategen bedeutet dies: Es handelt sich nicht um ein schrittweises IT-Upgrade, sondern um eine fundamentale wirtschaftliche Transformation, die ganze Branchen und etablierte Geschäftsmodelle neu definieren wird. Die Adaption von KI ist keine Option mehr, sondern eine Überlebensfrage.
„Es gibt keine Branche, die sich dem Einfluss von Künstlicher Intelligenz entziehen kann. Die Auswirkungen auf die Produktivität allein könnten den Wettbewerb umwälzen, ja sogar schädigen. Unternehmen, die KI nicht einsetzen, könnten in Punkto Durchlaufzeiten, Kosten und Erfahrungen rasch zurückfallen und als Folge daraus wesentliche Marktanteile verlieren.“ – (Gerald Dipplinger, Partner und Digital Leader bei PwC Österreich)
Niemand weiß wirklich, wie viele Jobs verschwinden
Kaum ein Thema wird im Zusammenhang mit KI so emotional diskutiert wie die Angst vor massenhaftem Arbeitsplatzverlust. Die Vorstellung, dass intelligente Algorithmen menschliche Arbeit in großem Umfang obsolet machen könnten, ist weit verbreitet. Die überraschende Wahrheit ist jedoch: Selbst Experten sind sich über das Ausmass dieser Entwicklung fundamental uneinig.
Die Studie „Wenn Algorithmen für uns entscheiden“ zeigt, wie stark die Prognosen auseinandergehen. Während einige viel zitierte Analysen, wie die von Frey und Osborn, davon ausgehen, dass bis zu 47 % aller Berufe in den USA und Europa ein hohes Automatisierungsrisiko aufweisen, kommen andere Studien zu deutlich konservativeren Ergebnissen. Forscher schätzen, dass nur etwa 9 % der Arbeitsplätze in den OECD-Ländern tatsächlich gefährdet sind. Diese enorme Bandbreite zeigt, wie schwierig genaue Vorhersagen sind.
Der Grund für diese Unsicherheit liegt darin, dass historische Vergleiche mit früheren Automatisierungswellen nur bedingt aussagekräftig sind. Im Gegensatz zu früheren technologischen Revolutionen, die primär manuelle oder routinemäßige kognitive Tätigkeiten betrafen, dringt KI nun auch in Bereiche vor, die bislang als Domäne menschlicher Intelligenz galten – von der medizinischen Diagnose bis zur juristischen Analyse. Ob die dadurch entstehenden neuen Berufsfelder die wegfallenden Arbeitsplätze kompensieren können, ist eine offene Frage.
Für Führungskräfte ist die strategische Konsequenz nicht Panik, sondern die Priorisierung von Agilität und einer radikalen Neuausrichtung der Personalentwicklung. Die zentrale Erkenntnis ist nicht der sichere Untergang von Arbeitsplätzen, sondern eine tiefgreifende Unsicherheit, die Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und vor allem massive Investitionen in kontinuierliche Weiterbildung erfordert.
Die paradoxe Mathematik der Fairness
Ein zentrales Versprechen von KI ist die Beseitigung menschlicher Vorurteile aus Entscheidungsprozessen. In der Praxis zeigt sich jedoch das Gegenteil: KI-Systeme können unbeabsichtigt Vorurteile aus ihren Trainingsdaten lernen, reproduzieren und sogar verstärken. Dieses Problem wird als „algorithmischer Bias“ bezeichnet.
Die wirklich überraschende Erkenntnis aus der Studie „Wenn Algorithmen für uns entscheiden“ geht jedoch noch einen Schritt weiter: Es ist mathematisch unmöglich, alle denkbaren Kriterien für „Fairness“ gleichzeitig zu erfüllen. Verschiedene mathematische Definitionen von Fairness können sich gegenseitig ausschließen.
Stellen Sie sich zur Illustration ein KI-System vor, das Bewerber für eine Stelle bewertet. Man kann den Algorithmus so gestalten, dass er für verschiedene Gruppen (z. B. Männer und Frauen) die gleiche Chance auf ein positives Ergebnis sicherstellt (gleiche Einstellungschancen). Dieses Ziel kann jedoch im direkten Widerspruch zu einem anderen Fairness-Ziel stehen, nämlich für dieselben Gruppen die gleiche Fehlerrate zu gewährleisten (d. h. sicherzustellen, dass qualifizierte Frauen nicht häufiger fälschlicherweise abgelehnt werden als qualifizierte Männer).
Für Strategen bedeutet dies einen Paradigmenwechsel: Die Schaffung von „fairer KI“ ist keine rein technische Aufgabe mehr. Es erfordert einen Übergang von einer rein technischen Problemlösung zu einer strategischen ethischen Governance und zum Management von Markenrisiken. Unternehmen müssen tiefgreifende ethische und gesellschaftliche Entscheidungen darüber treffen, welche Art von Fairness sie in einem bestimmten Kontext priorisieren wollen – eine Abwägung, die nicht an die Technologie delegiert werden kann.
Die Blackbox und unser Verhältnis zum Vertrauen
Viele der leistungsfähigsten KI-Systeme basieren heute auf Deep Learning und neuronalen Netzen. Diese Modelle sind oft so komplex, dass selbst ihre Entwickler nicht mehr im Detail nachvollziehen können, wie genau ein bestimmtes Ergebnis zustande gekommen ist. Dieses Phänomen wird als „Blackbox“-Problem bezeichnet.
Gleichzeitig zeigt die Forschung ein paradoxes menschliches Verhalten im Umgang mit diesen Systemen. Wie in der Studie „Wenn Algorithmen für uns entscheiden“ dargelegt wird, neigen Menschen zu zwei Extremen:
Algorithmische Akzeptanz: Ein übermäßiges Vertrauen in algorithmische Entscheidungen, weil sie als „objektiver“ und neutraler wahrgenommen werden als menschliche Urteile.
Algorithmische Aversion: Ein grundloses Misstrauen gegenüber Algorithmen, selbst wenn man weiß, dass die KI nachweislich bessere und genauere Ergebnisse liefert als ein Mensch.
Diese miteinander verknüpften Herausforderungen – die technische Intransparenz und die psychologische Ambivalenz – werfen grundlegende Fragen des Vertrauens und der Kontrolle auf.
„Bezüglich der verwendeten Trainings-daten wird debattiert, inwieweit sich in diesen Einseitigkeiten oder Befangenheit (bias) verbergen. Das verwendete Verfahren (Deep Learning) ist mit dem Problem konfrontiert, dass der Lösungsweg des Algorithmus schwer nachvollziehbar ist (black box). ... All diese Aspekte führen schliesslich zur Frage, inwieweit Menschen KI-Systemen vertrauen können, die für die Unterstützung oder zum Ersatz menschlicher Entscheidungsfindung eingesetzt werden.“ – Aus der Zusammenfassung der Studie „Wenn Algorithmen für uns entscheiden“
Für Strategen ist das Blackbox-Problem kein einfacher technischer Fehler, der behoben werden kann. Es ist eine fundamentale Herausforderung für die Konzepte von Rechenschaftspflicht, Verantwortung und Kontrolle. Dies erfordert die Entwicklung neuer Governance-Modelle, die sicherstellen, dass der Einsatz von intransparenten KI-Systemen mit den Prinzipien der unternehmerischen Verantwortung in Einklang steht.
Warum "Datenschutz" nur die halbe Wahrheit ist
In der öffentlichen und regulatorischen Debatte über die Risiken der KI liegt der Fokus oft stark auf dem Thema Datenschutz und der Einhaltung von Vorschriften wie der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Dies ist zwar ein wichtiger Aspekt, greift aber deutlich zu kurz.
Eine der zentralen Empfehlungen der Studie „Wenn Algorithmen für uns entscheiden“ lautet daher unmissverständlich: Der Gesetzgeber sollte den Einsatz von KI-Systemen nicht nur als datenschutzrechtliches Problem auffassen.
Der Grund dafür ist, dass viele der tiefgreifendsten Risiken und gesellschaftlichen Auswirkungen von KI nichts mit dem Schutz persönlicher Daten zu tun haben. Risiken, die durch die Nutzung von Sachdaten (nicht-personenbezogene Daten, z. B. in der industriellen Fertigung) entstehen, oder systemische Diskriminierung als unbeabsichtigte Folge der Datenverarbeitung benötigen völlig neue und andere Lösungsansätze als die, die das Datenschutzrecht bietet.
Für Strategen erweitert diese Erkenntnis den Risikohorizont. Eine reine Compliance-Sicht auf die DSGVO ist unzureichend. Es bedarf einer ganzheitlichen Analyse, die auch die Auswirkungen auf Wettbewerbsdynamiken (die Entstehung von Datenmonopolen), sozioökonomische Verschiebungen und die gesellschaftliche Akzeptanz der Marke berücksichtigt.
Die entscheidende Frage, die wir uns stellen müssen
Die Analyse der Fakten zeigt ein klares Bild: Das enorme wirtschaftliche Potenzial der Künstlichen Intelligenz ist untrennbar mit tiefgreifenden und komplexen gesellschaftlichen, technischen und ethischen Herausforderungen verbunden. Die KI-Revolution ist weder eine rein technische noch eine rein wirtschaftliche Angelegenheit; sie ist eine gesellschaftliche Transformation, die unser Verständnis von Arbeit, Fairness, Vertrauen und Verantwortung grundlegend verändert.
Ein realistischer Blick jenseits des Hypes erfordert, diese Komplexität anzuerkennen und die richtigen Fragen zu stellen. Während KI immer tiefer in unser Leben integriert wird, lautet die wichtigste Frage vielleicht nicht „Was kann die Technologie?“, sondern „Welche Art von Gesellschaft wollen wir damit gestalten?“
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